David Byrne’s American Utopia

David Byrne's American Utopia
© David Byrne’s American Utopia (Warner Music, Dogwoof)

David Byrne’s American Utopia

Seitenverhältnis: ‎ 16:9 – 1.78:1
Regisseur: ‎ Spike Lee
Medienformat: ‎Blu-ray, PAL
Audio: Dolby Digital 2.0 und 5.1
Laufzeit: ‎105 Minuten
Studio: Warner Music, Dogwoof
Erscheinungstermin: ‎ 11. Januar 2021


Rezension (Musikfilm)

Ausdauer ist sicherlich keine besondere Stärke von mir. Die Ungeduld ist bei mir deutlich ausgeprägter. Im Falle von David Byrne’s American Utopia auf Blu-ray habe ich indes eine schier unglaubliche Ausdauer bewiesen. 2 1/4 Jahre habe ich bei einem bekannten Versender auf mein Exemplar gewartet. Mittlerweile habe ich mir das Werk des Talking Head nicht nur einmal angesehen, angehört und bin wirklich restlos begeistert.

Den zugehörigen Soundtrack besitze ich bereits seit geraumer Zeit auf Vinyl, doch erst die Visualisierung bietet tatsächlich den vollen Genuss dieser superben Broadway Produktion.

Die Show wurde von Oktober 2019 bis Februar 2020 im Hudson Theatre am New Yorker Broadway gezeigt.

Unter der Regie eines anderen Multitalentes, Spike Lee, ist hier ein „Musical“ in Bild und Ton festgehalten worden, in dem David Byrne auf seinen umfassenden Backkatalog zurückgreifen kann.

Natürlich spielt dabei Byrne’s gleichnamiges 2018er Studioalbum eine tragende Rolle, aber eben auch diverse andere Songs aus den diversen Alben seiner Solokarriere. Selbstverständlich kommen die Fans der Talking Heads ebenfalls nicht zu kurz.

Was ich mir kaum vorstellen konnte, ist, dass David Byrne in Zusammenarbeit mit Spike Lee nach 36 Jahren tatsächlich nochmals die atmospärische Dichte und Qualität des sensationellen Musikfilms Stop Making Sense, damals unter Regie von Jonathan Demme, erreicht.

Im Hinblick auf die musikalische Präsentation wage ich zu behaupten, und ich bin wirklich ein beinharter Fans der Talking Heads, dass deren Songs in dieser zwölfköpfigen Besetzung noch nie so ausgefeilt klangen.

Die Choreografie

Für die Choreografie zeichnet Annie-B Parson verantwortlich.

Eine einfache graue Bühne, der quadratische Bühnenraum ist mit einem grauen Kettenvorhang definiert. Die Band trägt graue Anzüge, alle Musiker:innen sind barfuß. Dennoch wirkt die Band durch unterschiedliche Gesichter und Hautfarbe, durch individuelle Instrumentierung, Gestik und Mimik alles andere als uniformiert.

Eine wunderbare, unaufgeregte Kameraführung, gr0ßartige Perspektivwechsel, eine dezente Lichtführung zeichnen diese in jeder Hinsicht exzellente Produktion weiterhin aus.

Die Band ist eigentlich immer in Bewegung und spielt – kabellos – live. Ein packendes Tanztheater, das auch vor dem Bildschirm von den Stühlen reißt.

David Byrne’s Blick auf unsere Gesellschaft

Mit American Utopia beweist David Byrne, dass man sich als Künstler auch ohne erhobenen Zeigefinger zu gesellschaftlichen Themen, fast beiläufig, äußern kann.

Kurz vor Ausbruch der Pandemie legt er charmant und ohne Arroganz, immer aber mit einem gewissen Augenzwinkern, die Finger in die Wunden unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Beispielhaft sei hier der Dank an das Publikum dafür, dass es Wohnungen und Häuser verlassen hätte, um am Abend hier zu sein, zu Beginn der Show genannt.

Im Nachgang klingt es so, als hätte David Byrne dabei die Pandemie mit all ihren vorübergehenden Einschränkungen für unsere unmittelbare Kommunikation untereinander vorhergesehen.

Gemeint hat er damals wohl eher unseren Rückzug ins Private, oftmals in zweifelhafte soziale Netzwerke.

„I Should Watch TV“ mit Anspielung auf seinen alten Sony Fernseher, der ihm nur scheinbar den Blick in die Welt gewährte, ist ein weiterer Baustein in einer sorgsam ausgewählten Setlist, die uns den Spiegel vorhält, wie wir, nicht nur als Stadtneurotiker, leben.

Man kann auch antirassistisch sein, indem man ganz einfach auf die Internationalität der eigenen Band hinweist, ohne die es diese wunderbaren Abende am Broadway nicht gegeben hätte.

David Byrne wirkt bei alledem nicht oberlehrerhaft, selbst wenn er gleich zu Beginn unsere Hirnfunktionen anhand eines Modells erklärt, sondern bleibt ein stets hoffnungsvoller Künstler, der fest im gesellschaftlichen Leben verankert ist, das bewusste Alleinsein immer wieder auch braucht, um die vielen Eindrücke verarbeiten zu können.

Nicht umsonst werden die End Credits, während die Band durch New York radelt, mit Everybody’s Coming To My House hinterlegt. Es bleibt offen, ob sich die Band am Ende dieser Radtour in David Byrne’s New Yorker Wohnung einfindet. Ich könnte mir jedenfalls den „Psycho Killer“ als Gastgeber gut vorstellen.

Diesen Klassiker der Talking Heads hat wohl niemand an den längst vergangenen Abenden am New Yorker Broadway ernsthaft vermisst.

Ich bin mir sicher, dass Spike Lee’s mehrfach prämierter Dokumentarfilm für all diejenigen, die nicht live dabei sein konnten, mehr als nur ein banaler Ersatz des Bühnenerlebnisses ist.

Der Musikfilm ist schlichtweg ein Meisterwerk!

We′re on a road to nowhere
Come on inside
Taking that ride to nowhere
We’ll take that ride
I′m feeling OK this morning
And you know
We’re on a road to Paradise
Here we go
Here we go

David Byrne (aus Road To Nowhere)

© Gerald Langer


Tracklist

„Here“ (American Utopia)
„I Know Sometimes a Man Is Wrong“ (Rei Momo)
„Don’t Worry About the Government“ (Talking Heads: 77)
„Lazy“ (Muzikizum by X-Press 2)
„This Must Be the Place (Naive Melody)“ (Speaking in Tongues)
„I Zimbra“ (Fear of Music)
„Slippery People“ (Speaking in Tongues)
„I Should Watch TV“ (Love This Giant)
„Everybody’s Coming to My House“ (American Utopia)
„Once in a Lifetime“ (Remain in Light)
„Glass, Concrete & Stone“ (Grown Backwards)

„Toe Jam“ (I Think We’re Gonna Need a Bigger Boat by The Brighton Port Authority)
„Born Under Punches (The Heat Goes On)“ (Remain in Light)
„I Dance Like This“ (American Utopia)
„Bullet“ (American Utopia)
„Every Day Is a Miracle“ (American Utopia)
„Blind“ (Naked)
„Burning Down the House“ (Speaking in Tongues)
„Hell You Talmbout“ (by Janelle Monáe)
„One Fine Day“ (Everything That Happens Will Happen Today)
„Road to Nowhere“ (Little Creatures)

„Everybody’s Coming to My House: Detroit“ (End Credits)


Line-Up

David Byrne – lead vocals, electric and acoustic guitars
Chris Giarmo – dancing, melodica
Tendayi Kuumba – dancing
Karl Mansfield – keyboards, musical director
Angie Swan – electric guitar
Bobby Wooten III – bass
Mauro Refosco – drums, musical director
Tim Keiper – drums
Gustavo Di Dalva – drums
Jacquelene Acevedo – drums
Daniel Freedman – drums
Stephane San Juan – drums