Anders Koppel: Mulberry Street Symphony

Anders Koppel - Mulberry Street Symphony

Anders Koppel

Komponist: Anders Koppel
Künstler: Benjamin Koppel – Sott Colley – Brian Blade mit Odense Symphony Orchestra unter Leitung von Martin Yates
Album: Mulberry Street Symphony
Format: CD, digital
VÖ: 18.02.2022
Vertrieb: www.unitrecords.com
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Rezension

Kurz nach dem Jahreswechsel erreichte mich das Rezensionsexemplar. Eine wirklich hübsch aufgemachte Doppel-CD mit 20-seitigem Booklet. Die beiliegende Mitteilung zur Verwendung für Pressezwecke so umfangreich, dass der Rezensent fast eingeschüchtert sein muss. Natürlich habe ich mir diesen „Beipackzettel“ durchgelesen. Das Interesse war sofort geweckt, denn Inspiration hat die Mulberry Street Symphony von Anders Koppel durch die dokumentarischen Fotografien von Jacob Riis erfahren.

Jacob August Riis (1849-1914)

Im dänischen Ribe geboren, ist Jacob Riis im Jahre 1870 in die USA ausgewandert und verdiente dort seinen Lebensunterhalt zunächst als Gelegenheitsarbeiter, dann als Journalist und Polizeireporter in New York. Die Fotografie war damals noch ein sehr neues Medium, diente vor allem der Dokumentation. Die Technik des Fotografierens hatte sich Riis dabei weitgehend selbst beigebracht. Das Leben der Ärmsten der Armen, derjenigen, die in den Slums und auf der Straße lebten, wollte er öffentlich machen und im Bild festhalten. Nicht umsonst wird Riis bis heute als Wegbereiter der sozialdokumentarischen Fotografie betrachtet. Der US-Amerikaner Walker Evans (1903-1975) gilt in der Folge als ein ganz Großer dieses fotografischen Genres, das bis heute seine Berechtigung hat und die dunklen Seiten unserer Gesellschaft ausleuchtet.

Allerdings war die Drucktechnik am Ende des 19. Jahrhunderts längst noch nicht so ausgereift wie heute. Die unter dem nicht risikolosen Einsatz von Blitzlicht entstandenen Fotos von Riis dienten somit häufig als Vorlage für Zeichnungen, die stattdessen in Druck gingen.Letztlich führte dieser Umstand dazu, dass die fotografischen Arbeiten von Jacob Riis – deutlich zeitverzögert – erst mit einer Ausstellung im Jahre 1948 im New Yorker Stadtmuseum einem größeren Kreis bekannt wurden. Sein Buch „How The Other Half Lives“ von 1890 gilt als Meilenstein der sozialkritischen Fotografie, wenngleich es, aus vorgenannten Gründen, über mehr Text als Bilder verfügt.

Anders Koppel

Anders Koppel, Jahrgang 1947, Sohn des Komponisten und Pianisten Herman D. Koppel (1908-1998), ist ein zeitgenössischer dänischer Komponist und Musiker. Ausgebildet schon als Kind und Jugendlicher an Klavier, Klarinette und Orgel war er später Mitglied von The Savage Rose (Folk, Rock, Gospel, Blues) und Bazaar (World, Folk, Jazz). Für Improvisationen ließen beide Bands Spielraum, natürlich auch Anders Koppel, u. a. an der Hammond-Orgel. Seit dieser Zeit ist Anders Koppel auch als Komponist tätig.

Benjamin Koppel

Der dänische Jazz-Saxophonist Benjamin Koppel ist eben nicht nur Sohn von Anders Koppel, sondern reiht sich als Bandleader, Komponist und Musikproduzent in den Stammbaum einer außergewöhnlich kreativen Musikerfamilie ein. Im Jazz verwurzelt, arbeitet Anders Koppel auch immer wieder mit Bigbands und Symphonieorchestern zusammen.

Assoziation – Bilder einer Ausstellung

„Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski geht mir bei dieser Thematik spontan durch den Kopf.1874 schrieb Mussorgski den Klavierzyklus aus insgesamt zehn Sätzen, inspiriert von einer Gedächtnisausstellung mit Zeichnungen und Bühnenentwürfen seines bereits verstorbenen Freundes Viktor Hartmann. Maurice Ravel bearbeitete das Werk später für Orchester, die Progressive-Rocker Emerson, Lake & Palmer im Jahre 1971 dann eigens für meine Generation.

Mulberry Street Symphony

Herman D. Koppel war selbst Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in Dänemark. Sein Sohn und sein Enkel besinnen sich sozusagen gemeinsam auf ihre Herkunft. Eine Ausstellung von Fotografien Jacob Riis in Kopenhagen, die Anders Koppel besucht hat, gibt dabei einen ersten Anstoß.

„Einwanderer überschreiten Grenzen, Musiker tun es ihnen gleich“, so Anders Koppel im Booklet des Albums.Die Schwere des eigentlichen Themas – die Verlorenheit der Einwanderer in der Fremde, die bis heute oft mit Armut einhergeht – wird in der Symphonie indes weniger traurig als dramatisch und fröhlich umgesetzt.

Die ausgewählten Fotografien von Jacob Riis


1. Stranded In The Strange City

Ein junger Mann, wohl in seinem einzigen und besten Anzug, seinen Hut beidhändig festhaltend. Das rechte Auge ist dunkel angelaufen. Stocksteif steht er da und schaut schüchtern an der Kamera vorbei.

2. Minding The Baby

Geschwister passen aufeinander auf, während sich die Eltern um Arbeit kümmern, um damit die Familie ernähren zu können. Die Zeit für Schulbildung bleibt dabei häufig auf der Strecke.

3. Tommy The Shoeshine Boy

Tommy, der Schuhputzer, mit seinem Arbeitskoffer unterm Arm. Die Augen geschlossen, steht der junge Mann mit leicht ausgestelltem rechten Bein vor einer verschmutzten, unverputzten leicht geschlämmten Hauswand.

4. Blind Man

An den Laternenpfahl gelehnt, im schwarzen Frack und mit Zylinder, blickt der blinde Mann nach oben. In der rechten Hand hält er ein Kästchen, in der linken die Bleistifte, die er verkauft.

5. The Last Mulberry

Dieser Baum im Hinterhof der Mulberry Street 41 soll der letzte seiner Art gewesen sein.

6. Bandits‘ Roost

Bandits’ Roost war eine Gasse hinter der Mulberry Street 59. Junge italienische Gangster posieren unter der Wäsche ihrer Mütter, die dort zum Trocknen aufgehängt ist.

7. The New House

1894 beteiligte sich Riis an der Realisierung eines neuen Heims für Waisen und Kinder.


Musikalische Umsetzung

Während das Odense Symphony Orchestra mit einer von Anders Koppel ausgearbeiteten Partitur unter Leitung des Dirigenten Martin Yates sich durch die sieben Fotografieren arbeitet, bekommt das Jazz-Trio mit Sohn Benjamin und den beiden Rhythmikern – Scott Colley am Bass, Brian Blade am Schlagzeug – den nötigen Freiraum zur Improvisation.


„Mit ihrem tiefen Verständnis für die Musik und ihrer Fähigkeit, den Moment zu erfassen, verschmelzen sie mühelos mit dem Sinfonieorchester und bringen das Werk dorthin, wo die Grenze zwischen Notation und Improvisation verschwindet.“

Anders Koppel


Der Zuhörer wird indes beim Nachhören diesen Live-Aufnahmen in einen Strudel von klassischer Disziplin und jazziger Improvisation hineingezogen, der ihm volle Aufmerksamkeit abverlangt. Also, kein Album zum „nebenbei“ Anhören.


„Große Musiker haben fantastische Ohren. Und das wollte ich ausnutzen, indem ich Brian, Scott und Benjamin Freiheit gab, von der ich wusste, dass sie sie ausfüllen und nutzen können. Sie haben meine Vision vollständig interpretiert.“

Anders Koppel


Zum Abschluss des Albums auch noch eine Zugabe – „Puerto Rican Rumble“, eine Komposition von Sohn Benjamin. Das Jazz-Trio mit Anders Koppel an der Hammond Orgel, aufgenommen im Foyer des Odense Concert House, nach dem eigentlichen Konzert. Ein feines Dessert.

Mit der Doppel-CD, die bereits am 13. Oktober 2017 in der Carl Nielsen Hall des Odense Concert House eingespielt wurde, machte sich Anders Koppel selbst und uns ein Geschenk anlässlich seines 70. Geburtstages.In diesem Jahr feiert er bereits seinen 75. Geburtstag. Blicken wir also gespannt nach vorne.

© Gerald Langer


Tracklist

CD 1

1. STRANDED IN THE STRANGE CITY  11.00
2. MINDING THE BABY  07.37
3. TOMMY THE SHOESHINE BOY  19.54
4. BLIND MAN  06.42

CD 2

1. THE LAST MULBERRY  12.22
2. BANDITS‘ ROOST  18.34
3. THE NEW HOUSE  07.41
4. ENCORE: PUERTO RICAN RUMBLE  09.38

Alle Titel von Anders Koppel (außer ‚Puerto Rican Rumble‘ von Benjamin Koppel). Anders Koppel spielt Hammond Orgel auf Puerto Rican Rumble.


Line Up

Benjamin Koppel Altsaxophon
Scott Colley Bass
Brian Blade Schlagzeug
Martin Yates Dirigent

Kompositionen von Anders Koppel


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