My Corona Blues im März / April 2020
Home-Stage in Sinzheim – A Short Story
Award-Nominierung, frisches vom regionalen Musik-Markt, Leckeres aus der Konserve und eine Prise Heimatgefühle
Autor: Jörg Neuner
Verdammt leer die Bühne im Löwensaal in Baden-Baden. Und kein Publikum sowieso. Mr. M. hat Mitte März sein Jazz-Festival im Kurhaus immerhin noch knapp zur Hälfte durchziehen können – erster Tag mit Publikum an weit verteilten Tischen, zweiter Tag per Live-Stream aus leerem Saal, dritter Tag abgesagt. Seitdem streamt MarcMarshallOfficial auf Instagram jeden Tag um 19 Uhr von seiner Terrasse, aus einer verwaisten Hotel-Bar oder aus seinem Grundschul-Klassenzimmer, in dem er seit Jahrzehnten nicht mehr war. Lebenslauf und Publikums-Wünsche inclusive. Da geht doch was!
Im Blues-Club geht derweil aber auch was. Beim letzten Konzert im Februar wurden über die Baden-Badener Kulturloge erstmals Gratis-Tickets an Leute verteilt, die sich selber auch so kleine Konzerte nicht leisten können. Und das noch Bemerkenswertere daran ist, dass sich diese Besucher hinterher ganz herzlich bei der Loge dafür bedankt haben – das ist denen noch nie passiert, bei keiner Klassik, keinem Theater, keiner Comedy, gar nix. Blues rules!
Blues-Club-Vorstand Klaus Hartmann hat eine ganz diebische Freude daran, dass die Bemühungen des Vereins um die Pflege des Blues auf so fruchtbaren Boden fallen. Und noch mehr freut sich der ganze Verein über ein anderes fruchtbares Feld, das gerade bei den German Blues Awards bestellt wird: als Ernte wartet die Auszeichnung als Bester Blues-Club-Deutschlands. Baden-Baden ist eine von fünf bundesweit nominierten Blues-Bühnen, für die den ganzen April über abgestimmt werden kann. Stimmungsvolle Eindrücke vom gesamten Konzertleben gibt es derzeit auf der Homepage – das ist Blues-Club inside, noch ein bisschen umfassender als die Konzertberichte hier im Blog. Und dort findet sich natürlich auch der Link zum Voting für die Awards!
Dann drücken wir darüber hinaus auch die Daumen, dass das letzte Konzert der Saison am 16. Mai wenigstens noch stattfinden kann – Andreas Kümmert ist bislang noch nicht abgesagt…
Tja, meine neue Kamera muss sich noch ein wenig gedulden. Zumindest was die Konzerte angeht. Auf The Picture Books in Stuttgart war ich richtig heiß gewesen, das Bluegrass-Festival im Mai auch inzwischen gecancelt… ich hoffe noch auf meine alten Bluegrass-Bekannten The Dead South in der Laiterie in Straßburg im Mai… etwas wahrscheinlicher vielleicht Seasick Steve an gleicher Stelle im Juni
……
Aber die Pause füllt sich ja – mit spannenden neuen Ideen, Formaten, Initiativen, von denen viele auch dann noch das kulturelle Leben bereichern werden, wenn die Bühnen wieder bespielt werden und die Boxen wieder dröhnen. Siehe Mr. M., oder auch eine ganz wunderbare Idee hier aus der Nachbarschaft. Gert Endres, Gitarrist der sich gerade-wieder-belebenden Kultband Scaramouche aus den 90ern, hat ein Gänsehaut-Welt-Projekt initiiert – We are the world in digital:
Spannend und amüsant auch die Reportagen in der Lokalzeitung über viele andere regionale Musiker und Bands aus Zeiten, als die Beatles und Elvis überall Bands aus dem Boden sprießen ließen, und was aus ihnen geworden ist.
Aus meinem eigenen Archiv grabe ich gerade auch dauernd ganz alte Momente aus, in denen mich Musik, Live-Musik, irgendwie elektrisiert hat. Momente, in denen was passiert ist, was ich nicht verstanden habe. Oder in denen mich eine Erkenntnis getroffen hat. Oder … einfach nur geil!
OK, ab hier wird’s dann jetzt persönlich …aber irgendwie will das wohl auch mal raus. Wer nicht mag, kann einfach ja weiterklicken.
Einfach nur geil, das war 1987 in Gießen, meiner damals recht verschlafenen Heimatstadt. Konzertmäßig ziemlich tote Hose. Man hatte ein jährliches Stadion-Konzert angezettelt, mit eher mäßigen Line-ups. Darüber quatsche ich abends in der Kneipe mit einem Kommilitonen und sage resigniert: „Tina Turner kriegt man halt nicht in unser Kaff …“.
Damals war gerade ihr Comeback mit dem Private Dancer Album. Und dieser Kneipenabend ist mir noch so präsent, weil es tatsächlich am exakt nächsten Morgen war, das ich meinen Kaffee über die Titelseite der Zeitung geprustet habe: „Tina Turner im Gespräch für Gießener Open Air…“. Und sie kam tatsächlich. Und sie ist über die Bühne in unserem Waldstadion gefegt. Und sie hat ihre Löwenmähne geschüttelt. Es hat angefangen zu regnen und sie hat geschrien, dass sie uns alle liebt…! Einfach nur geil. Hat man damals aber noch nicht gesagt.
Rätselhaft ist mir immer noch, warum der Boss so lange so komplett von meinem Radar verschwunden war. Der lief damals zur gleichen Zeit natürlich auf jeder Fete und was hab ich abgerockt. Aber was dann vor oder nach der Born In The USA war … kein Plan. Jahrzehnte später hab ich irgendwann angefangen, mir bei den 3Sat-Konzert-Tage die interessanten Sachen aufzunehmen. Da stand dann ein Springsteen-Gig im Programm, den ich gar nicht aufnehmen wollte.
Wohl aber mein Video-Rekorder – in einer seiner unnachvollziehbaren Launen präsentiert er mir später ein halbes Konzert. Kein Konzert – eine so unglaubliche, so unbändige Party auf der Bühne, wie ich sie vorher und auch danach nicht mehr gesehen habe. Bruce Springsteen And The Sessions Band – mein All-time-high-Konzert steht mittlerweile natürlich per Blue-Ray im Regal und rückt mir regelmäßig den Kopf zurecht, wenn ich Aufmöbelung brauche. Und auch wenn ich es noch immer auf kein Konzert geschafft habe, ist mein Radar und Bücherregal jetzt definitiv Boss-kalibriert. Western Stars ist gerade im Anflug…
Im Urlaub in Dänemark vor gut zehn Jahren ist mir dann in einer kleinen Einkaufsmall schier das Herz stehen geblieben. Da gab es einen Plattenladen, der immer ein Regal mit Konzert-DVDs vor der Tür stehen hatte. Als ich wieder einmal darauf zugehe, springt mich schon aus der Entfernung ein Cover an, das mich gut zwanzig Jahre zurückbeamt, auf ein Konzert, auf dem ich war aber gar nicht war –mein verlorenes Konzert.
Die Geschichte dazu: Auch wieder in den 80ern war ein Freund von mir als freier Fotograf bei der Zeitung und fragt mich, ob ich mitkommen wolle auf ein Konzert, das er schießen sollte. Neil Young, Festhalle Frankfurt. Klar. Neil Young war auf unseren Feten immer für die Atempause zuständig und ich liebte Heart Of Gold. Nur, von Crazy Horse hatte ich irgendwie noch nie was gehört…und Crazy Horse plus Festhallen-Akustik waren für mein Akustik-Gitarren-Setting an dem Abend ein absolutes no-go.
Und da in Svendborg, Dänemark, leuchtet mir aus zehn Metern Entfernung ein Neil Young im Leinenanzug mit weißem Western-Hut und Bändchen am Kopf der Akustik-Gitarre entgegen. Und ich weiß: da ist es, mein verlorenes Konzert. Er hat es sogar Heart Of Gold genannt, obwohl das Album dazu die Prairie Wind ist. Country noch dazu, mit Emmylou Harris im background. Aufgenommen in Nashville, Im Ryman Auditorium – Grand Ole Opry…Er hat das wirklich extra für mich gemacht – ich hab Rotz und Wasser geheult, als ich das Konzert dann zuhause angeschaut hab. Wahrscheinlich hat er mich damals gesehen, ganz hinten in der Festhalle, alleine und unglücklich… Thanks Neil. And: no problem with the Horse anymore!
Country ist mein soft spot. Muss wohl die Jugendprägung sein. Bei uns in Gießen waren die Amis. Das hat mich alles fasziniert, die Autos, die Motorräder, alles viel cooler, und dann haben wir in den 70ern tatsächlich auch einen McDonalds bekommen. Im Radio gab es AFN, da hab ich mein Englisch gelernt. Und irgendwie haben mich die Town&Country Charts mehr begeistert als die Top 40, wo ja auch nicht so viel anderes lief als bei uns. Vor allem die Outlaws Willie Nelson und Kris Kristofferson hatten es mir angetan.
Das waren für mich die authentischen Jungs, die ihre Musik der Musik wegen machten und um Geschichten zu erzählen – nicht wegen dem Kommerz oder der Bühnenshow. Ich wusste natürlich auch damals schon, dass die auch ihre Brötchen verdienen müssen, und dass sie verdammt große Brötchen verdienen. Aber ich bin gerade heute davon überzeugt, dass sie im großen Musik-Business noch am ehesten welche von denen sind, die sich am wenigsten verbiegen, sondern wirklich ihr Ding machen.
Country-Music empfinde ich als Heimat. Nicht, wenn ich nach Hause komme oder in eine altvertraute Umgebung. But hey, when I listen to Willie … I’m safe. Und Kristofferson zu fotografieren vor ein paar Jahren, das war Gänsehaut pur!
Hinter der Kamera – das war auch immer Heimat für mich. Mein Vater war bei einer exquisiten deutschen Kamera-Marke und so bin ich schon früh mit ziemlich großen Schießeisen rumgezogen. So ein bisschen hab ich mich mit der Spiegelreflex und 135er Linse gefühlt wie Springsteen mit seiner ersten Gitarre vor dem Spiegel. Nur dass ich mich nie auf die Bühne getraut hab – liegt alles heute noch in Schubladen und Diakästen. Mir hat einfach das gefehlt, was ich an meiner Musik schätze – authentischer Inhalt.
Das Fotografieren hat sich dann in pragmatischer Digital-Knipserei verloren, bis mich 2009 wieder die Sehnsucht nach einer gescheiten Kamera überkam. Die alte Kamera-Quelle war leider versiegt und digital sollte es schon auch sein. Aber egal.
Zur gleichen Zeit habe ich einen Abstecher in die andere alte Heimat gemacht, die auch etwas in Vergessenheit geraten war – auf dem Bluegrass-Festival in Bühl stand ich endlich wieder mit Cowboy-Stiefeln auf Country-Terrain. Und ich hatte meine neue Kanone dabei …
Der Rest ist – persönliche – Geschichte. Ich habe meinen authentischen Inhalt gefunden, wenn ich vor der Box den Bass im Bauch spüre und versuche, die Vibes im Bild auf den Punkt zu bringen – meinen Betrachtern Lust zu machen auf die kleinen, hautnahen Gigs. Mit den Bands, die mit ihren eigenen Songs unterwegs sind und ihr Ding machen ohne Monster-Bühnen-Show.
Neben flickr und Instagram habe ich dann vor 5 Jahren meine passende Bühne gefunden – diesen Blog hier. Danke, Gerald! Die Bilder diesmal sind alle aus den ersten Jahren und bislang in keinem Bericht gewesen. Auch gut zu sehen, dass man sich ein wenig weiter entwickelt hat. Das eine oder andere werde ich wohl mal irgendwann digitally remastern…
Ja, die Erkenntnis … und einfach geil!
Aber die Krönung wird sein, wenn ich es doch noch irgendwann zu Willie vor die Bühne schaffe! Stay tuned…
My Corona Blues | Bildergalerie
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P. S.
Auch ich möchte mich in diesem Rahmen nochmals für die außerordentlich angenehme Zusammenarbeit mit Jörg Neuner bedanken. Freue mich immer, wenn ich elektronische Post aus Sinzheim bekomme. Kann ich mich doch stets darauf verlassen, dass Jörg regelmäßig mit voller Leidenschaft dabei ist! Er lässt Konzerte lebendig werden, die man selbst nicht erlebt hat! Große Klasse!
Gerald Langer